Auszug aus dem stenografischen Protokoll der Landtagssitzung vom 8. Mai 2009

 

60 Jahre Grundgesetz ‑ 20 Jahre friedliche Revolution

 

Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 5/1958

 

 

 

Ich gebe zunächst dem Antragsteller, der Fraktion der CDU, das Wort. Herr Scharf, bitte sehr.

 

 

Herr Scharf (CDU):

 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 23. Mai 2009 feiern wir den 60. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Es ist die Geburtsstun­de unserer Bundesrepublik Deutschland. Die staatliche Reorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg war durchaus beschwerlich. Die Väter des Grundgesetzes knüpften an eine Verfassungstradition an, die mit der Revolution von 1848 und der am 28. März 1849 verkündeten Paulskirchenverfassung begonnen hatte. Die Grundrechte der Paulskirchenverfassung sind ihr wichtigster Beitrag zur deutschen Verfassungsentwicklung.

 

Nach dem Krieg, der Niederlage und der Wiedergründung der Länder gaben die drei westlichen alliierten Militärgouverneure den Anstoß zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.

 

Der Herrenchiemseer Konvent leistete in der kurzen Zeit vom 10. bis 23. August 1948 die Vorarbeiten. Der Parlamentarische Rat konnte in nur acht Monaten, von Anfang September 1948 bis zum 8. Mai 1949, seine Beratungen abschließen. Anknüpfend an die Weimarer Verfassungstradition und geprägt durch die Pervertierung des Rechts im Dritten Reich sollte ein demokratischer Rechtsstaat entstehen.

 

Die Sorge war ziemlich groß, dass mit einem Grund­gesetz im Westen die deutsche Teilung zementiert werde. Schließlich wurde das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat gegen je zwei Stimmen von DP, KPD und Zentrum und sechs der acht CSU-Stimmen beschlossen und von den Militärgouverneuren gebilligt. Mit Ausnahme Bayerns stimmten die Landtage aller westlichen Länder zu. Das Grundgesetz konnte am 23. Mai 1949 verkündet werden und am 24. Mai 1949 in Kraft treten. Das Provisorium Grundgesetz wurde in 40 Jahren trotz einer Vielzahl von Änderungen in den Grundstrukturen nicht entscheidend umgestaltet.

 

Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz hat Frieden und Freiheit gewährleistet, und es hat das Selbstverständnis und die Identität der Bundesrepublik Deutschland als demokratischer Rechtsstaat geprägt. Zugleich hat es mit der Aufzählung der deutschen Länder, die die räumliche Torsohaftigkeit des Staates beschrieb, mit der Beschränkung der Verfassungsgebung auf eine Übergangszeit, nach deren Ende eine Verfassungsneuschöpfung stehen sollte, und mit der im Wiedervereinigungsgebot an alle Deutschen gerichteten Aufforderung, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, eine Idee und eine Überzeugung wach gehalten, die sich im Jahr 1989 entgegen mancher Erwartung und Überzeugung vollendet hat; denn nach 40 Jahren getrennter Entwicklung war die Wiedervereinigung durchaus keine Selbstverständlichkeit mehr.

 

Während in der DDR eine Massenfluchtbewegung über Prag und Warschau einsetzte, forderten im Jahr 1989 mehrere Zehntausende anlässlich von Demonstrationen in Leipzig eine demokratische Erneuerung der DDR. Bei einer Großveranstaltung am 4. November 1989 in Berlin wurden mehr als eine Million Teilnehmer gezählt. Der 9. November 1989 mit der Öffnung der Grenze bleibt in unser aller Gedächtnis. Ging es bis dahin nur um Refor­men, so wurde nun der Gedanke der Wiedervereinigung ernsthaft und öffentlich geäußert.

 

Meine Damen und Herren! Was man an der DDR hatte, wusste man. Lassen Sie mich als eines der neuesten Zeugnisse den Präsidenten des Bundesverfassungs­gerichts Professor Papier zitieren:

 

„1989 gab es in der DDR über 90 000 hauptamtliche und über 175 000 inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Gesellschaft war unterwandert von Spitzeln. Das MfS fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung. Politisch Andersdenkende oder Ausreisewillige wurden überwacht, abgeschreckt oder ausgeschaltet.

 

Wer sich als Regimegegner ‑ oder auch nur als Umweltschützer oder Ausreisewilliger ‑ ‚geoutet’ hatte, hatte Repressalien verschiedenster Art zu fürchten. Der Zugang zu höheren Schulen oder zur Universität blieb versperrt, am Arbeitsplatz wurde in Szene gesetzt, was man heute als Mobbing bezeichnet, Gerüchte über außerehe­liche Liebesbeziehungen wurden gestreut …

 

Die DDR war nach allen denkbaren Definitionen kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat.“

 

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

 

Nun zu uns, meine Damen und Herren. Wir sollten unserem Kollegen Gallert nicht gestatten, die Geschichte der untergegangenen DDR umzuinterpretieren.

 

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

 

60 Jahre Grundgesetz zeigen sehr eindrücklich, dass sich die Bundesrepublik auf der Grundlage des Grundgesetzes ständig erfolgreich angestrengt hat, den Rechtsstaat zu entwickeln. Das im sozialistischen Recht anerkannte Prinzip der Gesetzlichkeit machte aus der DDR noch keinen Rechtsstaat. Ja, die marxistisch-leninistische Doktrin hätte dies geradezu als einen Widerspruch in sich begriffen; denn das sozialistische Recht strebte gerade nicht nach Rechtsstaatlichkeit, sondern war Instrument der SED zum Erhalt der Macht.

 

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

 

Nur ein Staat, der nach Verwirklichung des Rechtes strebt, kann ein Rechtsstaat sein. In der „Volksstimme“ vom 5. Mai 2009 war folgender Satz von Herrn Gallert zu lesen:

 

„Soziale Gerechtigkeit darf nie wieder Legitima­tion für eine Erziehungsdiktatur sein.“

 

Diesen Satz möchte ich einmal rückübersetzen: Soziale Gerechtigkeit war nie Grundstreben der DDR-Diktatur; Machterhalt der SED um fast jeden Preis war ihr Grund­streben.

 

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

 

Daher, meine Damen und Herren, gab es auch keinen guten Zweck, der fälschlicherweise durch ein nicht richtig gewähltes Mittel erreicht werden sollte.

 

Auch der Begriff „Erziehungsdiktatur“ lockt uns in eine falsche Richtung. Freilich gab es Vorgaben für die staatlich verantwortete Bildung und Erziehung. Die Diktatur bezog sich aber auf nahezu alle entscheidenden Lebensbereiche. Die Folgen rechtsstaats- und verfassungswidriger Entscheidungen sind in tausenden Entscheidungen der Rehabilitationsverfahren nachlesbar und von den Zeitzeugen authentisch zu erfahren, meine Damen und Herren.

 

Aber es muss auch deutlich gesagt werden: Es gab unter den Bedingungen der sozialistischen Diktatur gelungenes Leben. Wer meint, dass dies infrage gestellt wird, der, meine Damen und Herren, konstruiert falsche Alternativen. Es gab vernünftig geordnete Lebensbereiche und zum Glück erfolgreiche persönliche und berufliche Biografien, meine Damen und Herren.

 

Der Versuch, auch zu DDR-Zeiten verantwortlich die Ge­sellschaft zu gestalten, führte fast notwendig auf den schmalen Weg zwischen Opposition und Opportunismus, zwischen totaler Verweigerung und totaler Anpassung. Den Weg konkret unterscheidender Mitarbeit musste jeder für sich selber finden.

 

Mich persönlich führte der Weg in die CDU. Ohne große Illusionen, aber auch ‑ ganz klar gesagt ‑ ohne jegliche Vorteile habe ich mich auf diesen Weg gemacht. Aber wer diesen Weg gegangen ist, muss auch sagen, dass er objektiv mit Schuld und Versagen beladen war. Der Versuch, den Sozialismus zu verbessern, führte doch immer wieder zu der Versuchung, nicht deutlich, energisch und fordernd genug auszusprechen, worunter die Menschen litten. Vieles wurde zu sehr in die Form der Frage oder der Bitte gekleidet. Ja, um mit Altbischof Krusche zu sprechen:

 

„Ganz ohne Zweifel haben wir bei unseren Reden die Hörfähigkeit unserer staatlichen Partner, ihr Einsichtsvermögen und ihre Bereitschaft zu Veränderungen bei Weitem überschätzt und bei manchen auch ihre moralische Integrität. Wir haben nicht wahrhaben wollen, dass es ihnen nur noch um die Erhaltung ihrer Macht ging.“

 

Meine Damen und Herren! Mit der friedlichen Revolution eroberten sich die Menschen neue Handlungsmöglichkeiten, die schließlich zur Wahl der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer führten. Einige der heutigen Mitglieder des Landtages gehörten ihr an.

 

Diese Volkskammer hätte die Möglichkeit gehabt, zum Beispiel gleich auf ihrer konstituierenden Sitzung, den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 zu beschließen. Sie ist diesen Weg bewusst nicht gegangen, sondern sie hat einen Einigungsvertrag ausgehandelt, der den Übergang wichtiger Lebensbereiche gesetzlich geregelt hat.

 

Das Ziel war aber von Anfang an, dem Rechtskreis des Grundgesetzes recht bald anzugehören, weil es ein erstrebenswertes Ziel war, in einem Land zu leben, in dem Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit sind.

 

(Beifall bei der CDU ‑ Zustimmung bei der FDP)

 

Meine Damen und Herren! Artikel 146 des Grundgesetzes bestimmte in seiner ursprünglichen Form, die Verfassung verliere ihre Geltung, wenn sich das gesamte deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gebe. Hatte sich deshalb das Grundgesetz mit der Wiedervereinigung von 1990 erledigt? Sollte die Volkskammer die Erarbeitung einer neuen Verfassung in die Wege leiten?

 

Die Volkskammer hat sich ernsthaft mit diesen Fragen beschäftigt. Sie verabschiedete am 17. Juni 1990 Verfassungsgrundsätze. In ihnen wurden die Grundprinzipien eines freiheitlichen, demokratischen, föderativen, sozial und ökologisch orientierten Rechtsstaats verkündet, alle Rechtsvorschriften, die auf ideologische Blankettbegriffe des sozialistischen Regimes Bezug nahmen, außer Kraft gesetzt, wie zum Beispiel sozialistische Staats- und Rechtsordnung, sozialistische Gesetzlichkeit und Ähnliches.

 

Meine Damen und Herren! Ich bin der Auffassung, dass sie damit das Bewusstsein der Parlamentarier und der Bevölkerung dafür geschärft haben, dass es gut ist, dem Bereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 beizutreten. Damit war die Entscheidung für die absehbare Zukunft gefallen, das bestehende Grundgesetz kontinuierlich zu entwickeln, aber nicht grundsätzlich eine bewährte Fassung durch eine neu zu erarbeitende zu ersetzen.

 

Meine Damen und Herren! Nicht alle Wünsche konnten in den 60 Jahren des Grundgesetzes und seit der fried­lichen Revolution von 1989 erfüllt werden. Viele Enttäuschungen sind auch dabei und müssen von uns ernst genommen werden. Aber ich glaube, meine Damen und Herren, dass es sich lohnt, unser Grundgesetz zu erhalten, es, wo es notwendig ist, auf die Erfordernisse der Zeit einzustellen, es nötigenfalls zu verteidigen und insbesondere heute alle extremistischen Angriffe auf unsere Staats- und Rechtsordnung konsequent abzuwehren. ‑ Vielen Dank.

 

(Beifall bei der CDU, bei der SPD, bei der FDP und von der Regierungsbank)

 

 

Präsident Herr Steinecke:

 

Vielen Dank für die Einbringung, Herr Scharf. ‑ Für die Landesregierung hat jetzt der Ministerpräsident Herr Professor Dr. Böhmer das Wort. Bitte schön.