Die Geldwirtschaft muss der Realwirtschaft dienen

Magdeburg, September 2017

Das Rätsel, was Geld ist, ist offensichtlich immer noch nicht vollständig gelöst. In gewissen Abständen erschüttern Finanzmarktkrisen die Wirtschaften fast aller Länder der Welt. Noch sehr eindrücklich ist uns die Finanzmarktkrise ab 2007 im Bewusstsein. Es drohte ein Absturz der Volkswirtschaften mit unabsehbaren Folgen für das Zusammenleben der Menschen. Internationales und nationales Gegensteuern hat uns vor dem Schlimmsten bewahrt. In Deutschland hat sich die Sozialpartnerschaft bewährt. Viele Betriebe und viele Belegschaften haben in Pakten für Arbeit und Beschäftigung in einer Kombination aus Lohnzurückhaltung und Arbeitsplatzsicherung einen Weg gefunden, durch die Krise zu steuern. Ja, Deutschland steht heute in Wachstum und Beschäftigung so gut da, wie seit vielen Jahren nicht. Und doch lauert weiterhin die Gefahr des jähen Absturzes durch eine neue Finanzmarktkriese.

 „Bis Mitte der 90er Jahre betrug das Weltsozialprodukt etwa 25 Billionen US Dollar. Die Summe der, „synthetischen Finanzprodukte“, die wir so nennen, weil sie ohne jeden konkreten Zusammenhang mit Gütern oder Dienstleistungen entwickelt und abgewickelt werden, betrug damals rund drei Billionen US Dollar. Zwanzig Jahre später, nach der großen Weltfinanzkrise, beträgt das Weltsozialprodukt etwa 70 Billionen US Dollar, es hat sich in diesen zwanzig Jahren also etwa verdreifacht. Aber das Volumen der Finanzprodukte beträgt weltweit mehr als 600 Billionen US Dollar, es hat sich in dieser Zeit zweihundertfacht und inzwischen ist die virtuelle Wirtschaft fast 10mal so groß wie die Realwirtschaft. Eine der aus meiner Sicht unvermeidbaren Konsequenzen dieser Entwicklung ist, dass wir die Wiederherstellung staatlicher Aufsicht und staatlicher Zuständigkeit in Wettbewerbszusammenhängen brauchen, die sich längst verselbstständigt haben und zu einer Akkumulation von Risiken führen, mit denen die Verursacher nachweislich überfordert sind. Über diese Entwicklungen neu nachzudenken ist nicht nur eine Frage an den Gesetzgeber und an die Wirtschaft. Es ist vor allem auch eine Frage an die Sozialpartner, schon gar bei dem Verständnis einer Staats- und Gesellschaftsordnung, wie wir sie gemeinsam in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben[1].“

Gewinne an der Börse waren Jahrzehnte lang steuerfrei. Die Begründung lautete, dass sie eher Gewinnen aus Glücksspielen als einem Einkommen entsprechen. (Gewinne aus Glückspielen werden bis heute in Deutschland nicht versteuert.) Die ersten synthetischen Finanzprodukte entsprangen dem Versicherungsgedanken, dass Änderungen von Marktpreisen, Zinssätzen, Wechselkursen usw. durch eine Art Versicherung abgemildert werden sollten. Dagegen war gewiss nichts einzuwenden. Nun waren die Risiken dieser Versicherungen natürlich selber wieder mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, gegen die man sich wieder durch eine neue Art von Versicherung absichern wollte. Lange Zeit war unklar, welchen Wert man diesen Risiken von versicherten Risiken (…von versicherten Risiken) zumessen sollte. Einen bedeutenden Beitrag in dieser Bewertungsfrage gelang Joseph E. Stiglitz[2], der für diese Leistung 2001 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt.

Der Derivatehandel ist das vermutlich am schnellsten wachsende und sich verändernde Segment des modernen Finanzwesens. Nach Angaben der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) betrug der Nominalwert aller weltweit ausstehenden OTC-Derivatekontrakte im 2. Halbjahr 2010 601 Billionen US-Dollar. Im Jahr 2000 waren es 95 Billionen US-Dollar[3].  Börsengehandelte Derivate (Futures und börsengehandelte Optionen) sind entsprechend den Bedingungen der Börsen hochstandardisiert, um einen schnellen und liquiden Handel zu gewährleisten. Sie sind ein bedeutender Bestandteil des Hochfrequenzhandels. Kauf- und Verkaufsentscheidungen werden in Bruchteilen von Sekunden getroffen und vollzogen. Diese erfolgen mit Hilfe automatisierter Verfahren der künstlichen Intelligenz. Aber diese Verfahren beinhalten die bekannten und wohl auch noch unbekannte Risiken, und nicht nur einmal ist es passiert, dass “jemand den Stecker ziehen musste“, weil sich die ablaufenden Algorithmen verheerend zu einem Absturz des Systems aufschaukelten.

Wären ein Verbot dieser Finanzprodukte und des Hochfrequenzhandels eine Lösung? Wohl nicht. Dieser Weg zurück ist uns versperrt. Es kann auch niemand hoffen, die komplexen Bewertungen von Unternehmen und Finanzprodukten in hinzunehmender Zeit besser „per Hand“ durchführen zu können, als dieses mit den Methoden der künstlichen Intelligenz geling. Aber der Mensch ist und bleibt fehlbar und damit auch alle Methoden, die er sich ich ausdenkt.

 Die Lösung liegt in einer besseren Finanzmarktregulierung. Mit der Schaffung der Europäischen Bankenunion mit einem einheitlichen Bankenaufsichtsmechanismus und einem einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus wurden hoffentlich wirksame Instrumente geschaffen. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre die weltweite Besteuerung des Hochfrequenzhandels. Es ist ermutigend, dass sich die Bundesregierung und besonders Finanzminister Schäuble mit Nachdruck hierfür einsetzen. Freilich gibt es offensichtlich zu viele Spieler in der Finanzwirtschaft, die an stärkerer Regulierung nicht interessiert sind, weil sie hoffen, durch Informationsvorsprünge riesige Gewinne erzielen zu können, riesige Gewinne auf Kosten anderer. Dieses Handeln kann ganze Völker in Unglück und Verderben stürzen. Die sozialen und ggf. kriegerischen Folgen liegen auf der Hand.

Ob es gelingen kann Realwirtschaft und Finanzwirtschaft wieder näher zueinander zu führen, vermag ich nicht abzuschätzen. Wir alle müssen aber ein hohes Interesse daran haben, dass die Finanzmärkte stärker als bisher reguliert werden. Diese Frage könnte über Krieg und Frieden entscheiden.

Jürgen Scharf
Mitglied im CDA-Landesvorstand Sachsen-Anhalt

P.S. Dieser Artikel ist veröffentlicht in der Mitgliederzeitung BLICKwinkel der CDA-Sachsen-Anhalt, Ausgabe September 2017 

[1] Bundestagspräsiden Norbert Lammert in Informationen aus der Arbeitnehmergruppe | Mai 2017 Seite 4