Der Bundestag hat eine Kommission mit dem Ziel eingesetzt, das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag zu überarbeiten. Die Kommission ist bisher offensichtlich nicht zu einem einvernehmlichen Ergebnis gelangt. Daraufhin hat der Präsident des Deutschen Bundestages Dr. Schäuble einen Vorschlag unterbreitet, dessen mögliche Konsequenzen im Folgenden kurz untersucht werden:

Anmerkungen zu einem Vorschlag, das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag zu verändern

Die Ausführungen können auch als PDF-Datei abgerufen werden.

Magdeburg, 14.01.2020

Einführung

Der 19. Deutsche Bundestag erreicht mit 709 Mandaten eine Größe, die in der öffentlichen Diskussion vielfach als unangemessen groß beschrieben wird. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten nach § 1 Bundeswahlgesetz beträgt derzeit 598 Abgeordnete, je 299 Direktmandate und Listenmandate.
  Im deutschen Wahlrecht sollen alle gewonnenen Direktmandate einen Platz im Bundestag erhalten. Gleichzeitig soll die mandatsmäßige Zusammensetzung des Bundestages dem Verhältnis der errungenen Zweitstimmen der im Bundestag vertretenen Parteien entsprechen. Dieses Ziel ist (näherungsweise) nur zu erreichen, indem in ggf. mehreren Schritten Überhangmandate durch Ausgleichmandate ausgeglichen werden. Mögliche Ausgleichsverfahren sind in der Literatur umfangreich beschrieben. Die Sitzverteilung erfolgte bei dieser Bundestagswahl, wie bereits seit der Bundestagswahl 2009, nach dem Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers. Dieses hatte zur Europawahl 2009 das früher für Europa- und Bundestagswahlen gesetzlich vorgeschriebene Verfahren nach Niemeyer abgelöst[1].
  Der Bundestag hat eine Kommission mit dem Ziel eingesetzt, das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag zu überarbeiten. Die Kommission ist bisher offensichtlich nicht zu einem einvernehmlichen Ergebnis gelangt. Daraufhin hat der Präsident des Deutschen Bundestages Dr. Schäuble folgenden Vorschlag unterbreitet:
  Die eine Hälfte des Bundestages solle aus den Mandaten der direkt errungenen Wahlkreise bestehen, die andere Hälfte aus den Listenmandaten der Parteien, die auf sich mehr als 5% der Zweitstimmen vereinen konnten. Eine Korrektur dieser Zusammensetzung durch Überhang- und Ausgleichsmandate solle nicht erfolgen. (Nähere Ausformungen eines solchen Wahlverfahrens sind mir derzeit nicht bekannt.)

Nähere Beschreibung möglicher Auswirkungen eines solchen Vorschlages

Erste Reaktionen auf den oben genannten Vorschlag legen die Vermutung nahe, dass ein solches Verfahren, Parteien bevorzugen werde, die ein starkes Erststimmenergebnis erzielen können. Da die Wähler ihre Erst- und ihre Zweitstimme rechtlich unabhängig voneinander vergeben können, in der Praxis aber oft eine hohe Korrelation dieser beiden Stimmen zu verzeichnen ist, ist a priori schlecht abzuschätzen, in welchem Ausmaß eine Disparität zwischen der Anzahl der je Partei errungenen Mandate und dem Zweitstimmenergebnis zu erwarten sein wird. Ein anderes Wahlsystem kann durchaus zu einem anderen taktischen Verhalten der Wähler führen.

Versuch einer modellhaften Untersuchung

Das nachstehende Modell ist nur eine „Fingerübung im Programmieren“. Es ist keine wissenschaftliche Untersuchung. Zur Erstellung habe ich die mir dafür geeignet erscheinende Programmiersprache Python und eine entsprechende Entwicklungsumgebung (Anaconda Navigator, Spyder) ausgewählt. (Python wird vielfach zum Erstellen wissenschaftlich – technischer Programme verwendet.)
 Die möglichst vollständige Implementierung einer gesetzlichen Wahlvorschrift in einen Programmcode ist eine recht umfangreiche Aufgabe, der ich mich nicht stellen wollte. Zur Abschätzung einiger Trendaussagen sind jedoch deutlich „abgespeckte“ Modelle hinreichend.

Modellannahnen

  • Modell zur Berechnung der Mandatszahlen nach dem Landeswahlgesetz Sachsen-Anhalt
  • Es wird als Berechnungsgrundlage im Wesentlichen das Landeswahlgesetz Sachsen-Anhalt zu Grunde gelegt.
  • Die Berechnung der Mandatsverteilung der errungenen Listenmandate erfolgt nach einem allgemein anerkannten Verfahren. Ich habe das Verfahren nach Hare-Niemeyer[2] ausgewählt.
  • Das Beenden der Iteration der Ausgleichschritte erfolgt im Wesentlichen nach § 35 Abs. 8 des Landeswahlgesetztes[3] des Landes Sachsen-Anhalt in der Fassung 5.12. 2014
  • Weitere Feinheiten des Wahlgesetzes wurden im Programm in der Regel nicht berücksichtigt.
  • Modell zur Berechnung der Mandatszahlen nach Vorschlag Dr. Schäuble
  • Das Parlament soll je zur Hälfte aus Direktmandaten und Listenmandaten zusammengesetzt sein.
  • Es werden keine Überhang- und Ausgleichsmandate vergeben.
  • Die Berechnung der Mandatsverteilung der errungenen Listenmandate erfolgt nach einem allgemein anerkannten Verfahren. Ich habe das Verfahren nach Hare-Niemeyer[4] ausgewählt.
  • Weitere Feinheiten des Bundeswahlgesetzes wurden im Programm nicht berücksichtigt.

Diese Modellannahmen scheinen hinreichend zu sein, um Trendaussagen beurteilen zu können. Die Feinheiten der Ausgestaltung des Wahlrechtes können bei „knappen“ Ergebnissen wahlentscheidend sein, berühren aber nicht die hier vorgelegte Untersuchung. Die unten aufgeführten Modellrechnungen enthalten nachrichtlich auch einen Vergleich der jeweils für das gesamte Parlament nach den vereinfachten Annahmen durchgeführten Rechnungen und dem amtlich bekannt gegebenen Endergebnis. Es sind keine oder nur minimale Abweichungen vorhanden.

Auswertung der Modellrechnungen

Es wurden als Beispiele für Wahlen die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt der Jahre 1990, 1994, 1998, 2002, 2006, 2011, und 2016 ausgewählt. Die Berechnung für die LT-Wahl 1990 ist nur bedingt heranzuziehen, da für diese Wahl eine etwas andere Wahlvorschrift als für die folgenden Wahlen galt, was von mir jedoch programmtechnisch nicht berücksichtigt wurde.
  Es wird auch eine Modellrechnung für die Bundestagswahl 2017 vorgelegt. Diese ist aber nur mit Einschränkungen nutzbar, da der nach Bundeswahlgesetz vorgesehene Ausgleich zwischen den Bundesländern unberücksichtigt blieb. (Das Modell geht von für das gesamte Bundesgebiet einheitlichen Parteilisten aus, d.h. es existieren keine Landeslisten.)
  Alle Modellrechnungen zeigen eindeutig, dass Parteien mit starken Wahlergebnissen deutlich mehr Mandate errungen hätten, als Ihnen nach dem Zweitstimmenergebnissen zustünden. So hätte z.B. in Sachsen-Anhalt 1998 die SPD mit nur 39.69% der Zweitstimmen eine absolute Mehrheit von 67.35%  der Sitze im Landtag erhalten. In den Jahren 1990, 1994, 2002, 2006 und 2011 hätte die CDU ohne eine absolute Mehrheit der Stimmen stets eine absolute Mehrheit der Mandate im Landtag erhalten.
  Eine beigefügte Modellrechnung auf der Grundlage des Wahlergebnisses der Bundestagswahl 2017 ist nur mit Einschränkungen interpretierbar, da, wie oben erläutert, auf den Ausgleichschritt zwischen den Bundesländern verzichtet wurde. Dieses hat insbesondere Auswirkungen auf das Ergebnis der CSU, die in Bayern sämtliche Direktmandate erhielt, aber in den anderen Bundesländern nicht vertreten war. Wird als Abbruchkriterium für die Anzahl der Ausgleichschritte das Kriterium des Landeswahlgesetzes Sachsen-Anhalt gewählt, so würde die CSU eine negative Anzahl von Listenplätzen erringen. Erst nach 16 Ausgleichschritten erfolgt eine korrekte Berechnung der Überhang- und Ausgleichsmandate. Dieses Ergebnis liegt allerdings trotz der stark vereinfachten Modellannahmen recht nahe am amtlichen Endergebnis.
  Auch auf Bundesebene ergibt die Modellrechnung eine starke Bevorzugung der Parteien mit einem starkem Erststimmenergebnis.

Schlussfolgerung

Es ist sehr fraglich, ob eine solche Zusammensetzung der Parlamente in Deutschland eine öffentliche Akzeptanz gefunden hätte und heute finden würde.
 Ich rate deshalb davon ab, den oben genannten Vorschlag von Bundespräsident Dr. Schäuble zu unterstützen.

Jürgen Scharf

P.S. Anmerkung, erstellt am 23.1.2020

Ich danke für die Zuschriften und Kommentare, die ich erhalten habe. Einen interessanten Literaturhinweis möchte ich weitergeben: Es handelt sich um einen Artikel von Hendrik Träger und Marc S. Jacob  "(Wie) Lässt sich das deutsche Wahlsystem reformieren? Modellrechnungen anlässlich der Bundestagswahl 2017 und Plädoyerfür eine „ent-personalisierte“ Verhältniswahl ". Erschienen in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 3/2018, S. 531 – 551, DOI: 10.5771/0340-1758-2018-3-531

Anlage

Modellrechnungen

Beispiel Landtagswahl 2016 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 87, Anzahl der Parteien: 5, Anzahl der Wahlkreise: 43

 

Parteien

CDU

DIE LINKE

SPD

GRÜNE

AfD

Zweitstimmen

334139                    

183290

119368

58209

272496 

Mandate gesamt

42

9

6

3

27

Direkt

27

1

0

0

15

Liste

15

8

6

3

12

Zweitstimmen [%]

34.54    

18.94    

12.34    

6.02    

28.16  

Mandate im Parlament [%]

48.28    

10.34    

6.90    

3.45    

31.03  

Amtl. Sitzverteilung

30                 

16         

11          

5

25

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

30

16

11

5

25

Beispiel Landtagswahl 2011 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 91, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 45

 

Parteien

CDU

DIE LINKE

SPD

GRÜNE

Zweitstimmen

323019                  

235011

213611

70922

Mandate gesamt

58

16

13

4

Direkt

41

3

1

0

Liste

17

13

12

4

Zweitstimmen [%]

38.34    

27.89    

25.35    

8.42

Mandate im Parlament [%]

63.74    

17.58    

14.29    

4.40  

Amtl. Sitzverteilung

41

29

26

9

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

41

29

26

9

Beispiel Landtagswahl 2006 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 91, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 45

 

Parteien

CDU

DIE LINKE

SPD

FDP

Zweitstimmen

326721               

217295

192754

60209 

Mandate gesamt

59

15

13

4

Direkt

40

3

2

0

Liste

19

12

11

4

Zweitstimmen [%]

40.99        

27.26    

24.19

7.55  

Mandate im Parlament [%]

64.84    

16.48    

14.29    

4.40  

Amtl. Sitzverteilung

40

27

23

7

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

40

27

23

7

Beispiel Landtagswahl 2002 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 98, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 49

 

Parteien

CDU

PDS

SPD

FDP

Zweitstimmen

433521                

236484

231732

154145

Mandate gesamt

68

11

12

7

Direkt

48

0

1

0

Liste

20

11

11

7

Zweitstimmen [%]

41.06    

22.40    

21.95    

14.60  

Mandate im Parlament [%]

69.39    

11.22    

12.24    

7.14  

Amtl. Sitzverteilung

48

25

25

17

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

48

25

25

17

Beispiel Landtagswahl 1998 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 98, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 49

 

Parteien

CDU

PDS

SPD

DVU

Zweitstimmen

329282                

293475

536501

192352

Mandate gesamt

14

11

66

7

Direkt

2

0

47

0

Liste

12

11

19

7

Zweitstimmen [%]

24.36    

21.71    

39.69    

14.23  

Mandate im Parlament [%]

14.29    

11.22    

67.35    

7.14  

Amtl. Sitzverteilung

28

25

47

16

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

29

25

47

17

Beispiel Landtagswahl 1994 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 98, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 49

 

Parteien

CDU

SPD

PDS

Bü90/GRÜNE

Zweitstimmen

390077                  

386020

225243

57739

Mandate gesamt

50

33

12

3

Direkt

32

15

2

0

Liste

18

18

10

3

Zweitstimmen [%]

36.83    

36.45    

21.27    

5.45

Mandate im Parlament [%]

51.02    

33.67    

12.24    

3.06  

Amtl. Sitzverteilung

37

36

21

5

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

37

36

21

5

Beispiel Landtagswahl 1990 nach Modell Schäuble
Anzahl der Mandate: 98, Anzahl der Parteien: 4, Anzahl der Wahlkreise: 49

 

Parteien

CDU

SPD

PDS

FDP

Grüne-NF

Zweitstimmen

550815                     

367254

169319 

190800

74696

Mandate gesamt

68

14

6

7

3

Direkt

48

1

0

0

0

Liste

20

13

6

7

3

Zweitstimmen [%]

40.71    

27.15    

12.52    

14.10    

5.52  

Mandate im Parlament [%]

69.39    

14.29    

6.12    

7.14    

3.06

Amtl. Sitzverteilung

48

27

12

14

5

Kontrollrechnung Wahlgesetz LSA

48

32

15

17

6

Grund für das starke Abweichen der Ergebnisse, ist das 1990 geltende Wahlgesetz.  Es beinhaltet eine etwas andere Wahlvorschrift. (LWG §7 Abs.5) Es sieht keine Iterationsschritte (Ausgleichsschritte) bei Überhangmandaten vor.

 

Beispiel Bundestagswahl 2017 nach Modell Schäuble
Es wurde vereinfacht ein einheitliches Wahlgebiet von ganz Deutschland angenommen, keine Länderuntergliederung.
Anzahl der Mandate:598, Anzahl der Parteien: 7, Anzahl der Wahlkreise:299, notwendige Ausgleichschritte: 16
Größe des Bundestages nach dem amtl. Wahlergebnis: 709 Abgeordnete
Größe des Bundestages nach der Kontrollrechnung: 700 Abgeordnete

 

Parteien

CDU

SPD

AfD

FDP

DIE LINKE

GRÜNE

CSU

Zweitstimmen

12447656                  

9539381

5878115

4999449

4297270 

4158400 

2869688

Mandate gesamt

269

124

43

34

34

29

65

Direkt

185

59

3

0

5

1

46

Liste

84

65

40

34

29

28

19

Zweitstimmen [%]

  28.17%     

21.59%     

13.30%     

11.31%     

9.72%     

9.41%     

6.49%   

Mandate im Parlament [%]

  44.98%     

20.74%     

7.19%     

5.69%     

5.69%     

4.85%     

10.87%   

Amtl. Sitzverteilung

200

153

94

80

69

67

46

Kontrollrechnung Wahlgesetz
nach 16 Iterationen

197

151

93

79

68

66

46

 

[1] https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/5bcae3b7-c2dd-4f17-9615-c7c73f8fd87a/btw17_wista_04-2017.pdf S. 55

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Hare-Niemeyer-Verfahren
Bei Landtagswahlen kommt das Hare-Niemeyer-Verfahren in Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Anwendung.

[3] http://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/jportal/;jsessionid=91D63345A291BB011BFC41C6EA315D9A.jp19?quelle=jlink&query=WahlG+ST&psml=bssahprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-WahlGST2010V1P35

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Hare-Niemeyer-Verfahren
Bei Landtagswahlen kommt das Hare-Niemeyer-Verfahren in Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Anwendung.